Der Freie Religionsunterricht und der Impuls des nicht-priesterlichen Kultus
Seit alten Zeiten gibt es neben den exoterischen, von allen Menschen wahrzunehmenden Kultusformen, auch esoterische Rituale, ja Gottesdienste. Der Kultus ist die tätige Verehrung und die gottesdienstliche Pflege derselben. Ein Ritual ist die äussere Form, der Ablauf eines Kultus, einer Handlung zur Verbindung des Menschen mit der Gottheit, auch in gewisser Weise in der Meditation und im Gebet, soweit sie in Spruchform sind. Dabei ist das Sakrament das Gnadenmittel, die Vermittlung der göttlichen Gnade, der Gottheit — sofern Sie, die Gottheit, die Opferung und die Wandlung des Menschen annimmt, was nicht — wie in einigen Kirchen angenommen — vom Menschen oder Priester erzwungen werden kann; d.h. der Mensch muss sein Denken-Fühlen-Wollen der Gottheit darbringen — sich opfern und in fester Absicht sich wandeln, ohne Macht, in vollem Bewusstsein der Gottheit ergeben sein, dann kann Kommunion stattfinden. Mein ICH begegnet GOTT, oder genauer CHRISTUS — CHRISTUS in mir und auch ICH in CHRISTUS! ER ist wie Vater — ABBA und Heilige Geistin — SOPHIA ein Prinzip der Gottheit. Kurz gefasst kann gesagt werden, dass die drei Wesensbegriffe der Trinität in dem Wort GOTT subsumiert sind, GOTT also der Oberbegriff ist.
Die exoterischen Handlungen — Messen — sind in allen Kirchen zu finden, so auch in der Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft. Sie sind in ihrer rechtmässigen Form viergliederig: Verkündung, Opferung, Wandlung, Kommunion. An einer Messe kann jeder Mensch teilnehmen, sie bezieht sich vor allem auf die physische Welt, besonders den Leib des Menschen, was ja in der Kommunion mit Brot und Wein deutlich wird. Natürlich ist das Ziel — die Kommunion — in jedem Fall nur durch Gnade möglich. Ein Hinweis Rudolf Steiners auf eine Frage Friedrich Rittelmeyers, eines Mitbegründers der Christengemeinschaft, besagt, dass das Ergebnis der Kommunion und der Meditation ab dem Zungenrücken, d.h. nach dem Passieren der Hostie, gleich sei. Das bedeutet aber auch, dass die Wandlung nicht nur in der Wandlung der Substanzen Brot und Wein geschieht, sondern eben im Menschen!
Daneben gibt es den nicht-priesterlichen Kultus, die esoterische Handlung wie die Opferfeier. Schon im ersten Testament sind Hinweise zu finden:
— Abraham opfert den zehnten Teil seines Sieges, nachdem Melchizedek ihm Brot und Wein nach der Schlacht der Völker gibt;
— in Psalm 110 wird CHRISTUS als ein Priester nach der Ordnung Melchizedeks genannt;
— Aaron und Mirjam, die Geschwister Mose': Aaron begründet den offiziellen, exoterischen Kultus, während Mirjam, als Frau (!), Priesterin des esoterischen Kultus ist, seit Mose gibt es das Nur-Männerpriestertum;
— Nathan, ein Sohn Davids und Vorfahre Jesu von Nazareth nach Lukas, gehört der esoterischen Priesterlinie Melchizedeks an.
Weiterhin ist zu beachten, dass die esoterischen Essäer ihr Paschafest am Donnerstagabend begannen — so wie CHRISTUS mit Seinen Schülern das erste Abendmahl der neuen Ordnung — während für das offizielle Judentum, die Hohepriester, Pessach am Freitagabend beginnt — da ist CHRISTUS das Opferlamm am Kreuz.
Jedes Zeitalter hat nach Angaben Rudolf Steiners einen einzigen gültigen Kultus. Menschenweihehandlung und Opferfeier sind also ein Kultus in zweierlei Gestalt im Ritual. Beide kultischen Formen wurden von Rudolf Steiner etwa innerhalb eines halben Jahres gegeben. Das erste Zelebrieren der Menschenweihehandlung war am 16. September 1922, das der Opferfeier am Karfreitag, dem 30. März 1923, wobei die Opferfeier eine esoterische, die Menschenweihehandlung eine exoterische Feier ist.
Die nicht-priesterlichen Handlungen wurzeln in der alten Esoterik, im Erkenntnisstreben der Menschen. In der alten esoterischen Schule der Anthroposophischen Gesellschaft, vor dem 1. Weltkrieg, wurden kultische Feiern vollzogen, die aber von Rudolf Steiner in der freien Hochschule nicht direkt verfolgt wurden, er hat vielmehr darauf gewartet, nach den Handlungen gefragt zu werden. Er schliesst dann in den Handlungen zunächst des Freien Religionsunterrichtes an diesen Strom an: etwas Messe-ähnliches können wir machen, das ist gemeint in Bezug auf die Substanzen, denn die Kommunion findet in Wort und Handauflegung statt, nicht mit Brot und Wein, gleich ist sie in Bezug auf ihre Vier-Gliedrigkeit. Im Anschluss an das oben Ausgeführte zu den exoterischen Handlungen, kann hier gesagt werden, dass die esoterischen Handlungen, wie die Opferfeier, im seelischen Bereich, im Fühlen, angesiedelt sind: wir opfern die heiligsten Gefühle. Es versteht sich, dass die Teilnahme an den Handlungen nicht öffentlich, sondern vielmehr nur im Bereich einer Gemeinschaft, in aller Freiheit des Einzelnen, gefeiert werden können.
Schon im Herbst 1919, zu Beginn der Waldorfschule, legte eine beträchtliche Gruppe evangelischer und katholischer Eltern Wert auf einen konfessionellen Religionsunterricht, der dann eingeführt wurde. Das hatte zur Folge, dass eine weitere grosse Gruppe von Kindern, insbesondere Kindern der Mitarbeiter der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik, keinen Religionsunterricht gehabt hätten. Daraufhin wurde ein nicht-konfessioneller, freier, aber christlicher Unterricht gegeben. Die Waldorflehrer waren damals die Unterrichtenden, und die Verantwortung hierfür lag und liegt bei der Anthroposophischen Gesellschaft wie der konfessionelle Unterricht in der Verantwortung der Kirchen und religiösen Gemeinschaften war und ist. Der Religionsunterricht war und ist exterritorial, von aussen gegeben, er ragt wie ein Golf in die Schule, daher müssen die Lehrkräfte nicht unbedingt zum Lehrerkollegium gehören. Der freie Unterricht war aber ausdrücklich nicht weltanschaulich, sondern eben, so die Bezeichnung, ein Freier Religions-Unterricht.
Auf Wunsch der Eltern nach einer Sonntagsfeier für die Kinder, einem Kindergottesdienst, wurde am 1. Februar 1920 die erste Sonntagshandlung für die Kinder gehalten. Rudolf Steiner machte deutlich, dass diese Sonntagshandlung ein Kultus sein muss und damit tabu bezüglich Veränderungen, d.h. sie ist also nicht beliebig zu verändern! Kultus ist das Esoterischste, das man sich denken kann. Es war der Anschluss an die alte, durch den Weltkrieg unterbrochene, Esoterik und die Inauguration eines neuen Kultus, der jetzt seit über 100 Jahren besteht. Bis dahin gab es keinen Kultus für Kinder. Im gleichen Jahr fand dann die erste Weihnachtshandlung statt, Palmsonntag 1921 die erste Jugendfeier und zwei Jahre später die erste Opferfeier. Rudolf Steiner wollte keineswegs, dass es Religionsunterricht ohne Handlungen gäbe. Er sah die Einführungen der Handlungen als eine äusserst verantwortungsvolle Angelegenheit an.
Als eine Schülerin der damals obersten Klasse nach einer Feier für die älteren Schüler fragte, griff Steiner das mit der Opferfeier erfreut auf und bezeichnete dies Geschehen als von weittragender Bedeutung. Auf die Frage, ob die Opferfeier auch für die Lehrer sei, sagte er: Warum nicht? Diese Feier kann überall gehalten werden, wo Menschen sind, die sie wünschen. Eine ähnliche Antwort gab er auf die Frage nach einer besonderen esoterischen Handlung für die Lehrer: Sie haben doch die Handlungen (gemeint waren die Sonntagshandlungen für die Kinder).
Die mystische Bedeutung der Opferfeier wird in Rudolf Steiners Aussagen zur Messe deutlich: Die Vorstufe für die mystische Vereinigung mit CHRISTUS ist das Abendmahl, also die Kommunion in der Opferfeier … Vom Physischen zum Geistigen muss sich das Abendmahl entwickeln … zur wirklichen Vereinigung. Sehr deutlich wird das in der Synopse der verschiedenen Messordnungen, also Missale Romanum, Menschenweihehandlung, Opferfeier, in der ersichtlich ist, dass die Opferfeier sehr komprimiert das Wesentliche und Zukünftige herausstellt.
In der Opferfeier verändert die Seele die Physis, Seelisches wirkt und wird physisch — in der Menschenweihe handlung verändert Physisches die Physis, Physisches wirkt und wird physisch — in der Meditation verändert der Geist die Physis, Geistiges wirkt und wird physisch.
Wir kommen zur dritten und letzten Möglichkeit eines Kultus — der Meditation oder auch dem Gebet, wie es auch z.B. im Rahmen der freien Hochschule für Geisteswissenschaft praktiziert werden kann. Die Meditation kann zur Folge haben: das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit. Der Meditant kann dann, allein mit seinem GOTT, zu einer Begegnung mit seiner geistigen Führung im GEIST kommen.
Die Inauguration der Handlungen war die Bildung einer neuen Gemeinschaft, ein Weltpfingsten. Der Altar führt uns immer wieder in eine Schwellensituation. Die vier Stufen kultischer Handlungen sind dabei die Urbilder menschlicher Entwicklung auf dem Weg zum ICH. Es stellt sich gerne die Frage: Warum Ich? — Ich kann nicht / Ich will nicht. Warum soll Ich das tun, was Ich tue? Gleichgültigkeit zum Weltgeschehen ist die grosse Gefahr, ein Mysterium des Alltags. — Herausführen kann uns die Religiosität im Alltag. Jede Tat kann christlich sein: die Hilfe, die ich anderen zukommen lasse, der Spruch, mit dem ich die Mahlzeit beginne, seien nur zwei Beispiele. Die Antwort auf die eben gestellte Frage ist also: ICH will.
Die Frage, woher weisst du, dass du ein Mensch bist, findet eine einfache Antwort: Weil ich dich liebe! Das höchste Gebot CHRISTI ist die Liebe — die Substanz der Welt ist Liebe! Wir sehen, dass wir an der Schwelle zum Geistigen immer in einer Wandlungssituation sind. Die Schwelle ist immer ein Begegnungsort mit sich selbst — Friede, aber auch Diskurs — Verzeihen und Wahrheit!
CHRISTUS ist in unserer Zeit der Heiland, der Heiler. Und der Mensch ist sowohl Geschöpf der ersten Schöpfung als auch — durch das Mysterium von Golgotha, der ICH-Werdung — Schöpfer des Neuen durch unsere in Liebe getane Arbeit. In der Sonntagshandlung für die Kinder heisst es an bedeutender Stelle: Wir lernen, um die Welt zu verstehen. Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zueinander belebt alle Menschenarbeit. Ohne die Liebe wird das Menschensein öde und leer, CHRISTUS ist der Lehrer der Menschenliebe.
Abschliessend noch einige Gedanken zu einer esoterischen kultischen Feier und zum Zusammenwirken freier Menschen.
Hierzu muss gesagt werden, dass ich nicht bereit bin meine Thesen zu verteidigen. Ich werde auch auf Polemiken nicht eingehen. Im sinnlichen Leben ist es ja so, dass auf einem Stuhl nur einer sitzen kann. Im Geistigen ist das anders. Es können, um im Bild zu bleiben, durchaus mehrere Menschen nebeneinander auf einem Stuhl sitzen. Jede Meinung gilt, und die Zukunft wird die Wahrheit zeigen. Man kann also geduldig abwarten, ohne die andere Meinung zu übernehmen, es ist ja nicht meine Meinung, sondern deine, also diese kann geduldet werden. Es sollte immer bedacht werden, aus welchem Hintergrund jemand spricht oder handelt. Hätte dieser Mensch meine Vergangenheit, würde er wohl anders sein. Lässt man bei sich oder Fremden, anderen denken?
Ich habe den brennenden Wunsch, folgende Gedanken mitzuteilen — nehmt das einem alten Mann nicht übel. Seit 1984 bin ich Religionslehrer, 1990 kamen die Handlungen dazu, ab 1995 regelmässig die Opferfeier; ausserdem der Bibelabend und religiöse Stunden für die Freunde mit besonderen Fähigkeiten und die Einführung für Praktikanten. Seinerzeit war ich Mitglied in den Arbeitskreisen für Spiritualität bzw. Religiosität in der Sozialtherapie. Die Krönung waren die Mitarbeit im Heilpädagogischen-Gremium, heute bei Anthropoi und im Gremium für religiöse Erziehung, früher das Religionslehrer-Gremium. Ich durfte auf Anfrage der Eltern viermal eine Taufe halten. Seit Ende 2024 habe ich aus Altersgründen alle Aufgaben zurückgegeben. Jetzt haben meine Frau und ich einen esoterischen Arbeitskreis, und wir lesen eine esoterische Feier auf der Grundlage der Opferfeier. So viel zu meiner bisherigen religiösen und spirituellen Tätigkeit.